Big Data: Mensch und Maschine als Team im Investmentprozess
Quantitative Investments
Big Data ist überall. Meist ist uns gar nicht bewusst, wie sehr diese digitale Technologie unser tägliches Leben beeinflusst. Auch in der Finanzindustrie gewinnt die Anwendung von Big Data immer mehr an Bedeutung, denn die enormen Datenmengen haben das Potenzial, den Entscheidungsprozess durch qualitativ hochwertige, zuverlässige und kontextbezogene Informationen zu verbessern. Allerdings braucht es bei der Interpretation der Ergebnisse häufig das menschliche Urteilsvermögen, um Datentrends genau zu erläutern und sorgfältig abgewogenen Entscheidungen zu treffen. Wie aber funktioniert das Zusammenspiel von Mensch und Technologie im Investmentprozess? Welchen Vorteil hat der Einsatz von Big Data? Und wie können die Signale der Maschine sinnvoll genutzt werden?
Was ist Big Data?
Erinnern Sie sich noch, wie Sie vor gefühlt noch gar nicht allzu langer Zeit Kartenmaterial studiert haben, wenn sie mit dem Auto einen Ausflug gemacht haben? Damals hatte man für nahezu jede Region eine Karte im Handschuhfach, die man bei Bedarf auspacken konnte. Heute tippt man einfach einen Zielort in das Navigationssystem oder die Handy-App und los geht die Reise. Auf dem Weg erhält man dann in Echtzeit Anweisungen des Systems, das einen auf dem schnellsten Weg zur Wunschdestination navigiert und bei Bedarf – beispielsweise Strassensperrungen oder Staus – umleitet.
Diese rasante Weiterentwicklung haben wir der weiten Verbreitung und dem Einsatz von Big Data zu verdanken. Heute ersetzen intelligente Systeme und Kartenprogramme nicht nur physische Strassenkarten; aufgrund der gesammelten Daten verbessern sie sich auch stetig und können immer präzisere Informationen bereitstellen. Doch was genau ist eigentlich Big Data?
Obwohl der Begriff ein aktuelles Schlagwort ist, bleibt seine Bedeutung von vielen begrifflichen Unklarheiten umhüllt. Im Allgemeinen beschreibt Big Data die Sammlung und Auswertung grosser Volumen an Datensätze, die aufgrund ihrer extremen Grösse besondere Anforderungen an die Speicherung stellen.1 Klassische Definitionen2 umfassen dabei die drei Hauptcharakteristika grosse Datenmenge in heterogenen und vielfältigen Dimensionen (Volume), Entstehungsgeschwindigkeit der Daten (Velocity) und Vielfalt der Datenbeschaffenheit (Variety) (siehe Abbildung 1).3
Warum Big Data
Big Data ermöglicht es, mit einer unvorstellbaren und für den Menschen nicht fassbaren Geschwindigkeit grosse Datenmengen zu speichern, zu verarbeiten und zu analysieren.4 Dazu bedarf es allerdings moderner Methoden und Verfahren, die unter dem Begriff Big Data-Technologien zusammengefasst werden.5 Diese zielen darauf ab, komplexe und sich entwickelnde Beziehungen zwischen Daten zu untersuchen sowie Muster und Trends zu erkennen.
Die Vorteile des Einsatzes von Big Data offenbaren sich insbesondere bei der Lösung komplexer Entscheidungsprobleme, die einen hohen Informationsbedarf6 haben. Aufgrund beschränkter sensueller und kognitiver Fähigkeiten kommt die menschliche Verarbeitungskapazität bei der Fülle und Vielschichtigkeit von Informationen (Information Overload) schnell an ihre Grenzen.7 Big Data besitzt die Fähigkeit, diese Komplexität zu beherrschen, unbekannte Situationen zu entschlüsseln und die evidenzbasierte Entscheidungsfindung zu unterstützen.
Innerhalb datengetriebener Entscheidungsprozesse für mathematisch beschreibbare Probleme gilt Big Data als adäquate Lösung, um aus einer grossen Datenmenge sehr gute Wahrscheinlichkeiten für Trends und Entwicklungsmuster ermittelt. Zudem kann die Technologie schwache Signale erkennen und Probleme identifizieren, die nur zufällig entdeckt oder verborgen geblieben wären. Die Analysen, die auf Daten und nicht auf Emotionen beruhen8, sind eine wertvolle Entscheidungshilfe und unterstützen das menschliche Urteilsvermögen.
Big Data in der Konjunkturanalyse
Das Potenzial von Big Data macht sich auch in der Finanzindustrie bezahlt. Die Technologie kann dabei helfen, die Genauigkeit bei der Prognose von relevanten Messgrössen innerhalb des Investmentprozesses zu erhöhen. Dies gilt im Besonderen bei der Prognose des Konjunkturzyklus, der als Schlüssel für ein erfolgreiches Markt-Timing gilt.9 Entscheidend für eine effektive Investitionsentscheidung sind hierbei insbesondere zeitnahe und präzise Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung. Der Zustand der Wirtschaft wird dabei als unbeobachtbare Variable behandelt, die aus der Bewegung vieler makroökonomischer Indikatoren geschätzt wird.
Der Ansatz, die unbeobachtbare Variable aus einer grossen Anzahl von Zeitreihen zu schätzen, hat sich bei vielen Prognosen als nützlich erwiesen.10 Darum haben wir unser hauseigenes Konjunkturmodell Wave11 entwickelt. Mit Hilfe eines Big-Data-Ansatzes ermittelt sie das aktuelle Stadium des Konjunkturzyklus für 50 Länder und liefert Informationen über das wahrscheinlichste künftige Stadium der Konjunktur. Unsere Datenquellen, die systematisch gesammelt und erfasst werden, bestehen aus mehr als 1.200 makroökonomisch relevanten Indikatoren sowie Anlagepreisen, welche die konjunkturelle Lage abbilden.
Dadurch, dass die Wave mittels Big Data eine Vielzahl unterschiedlicher Indikatoren verarbeitet, um anhand deren Veränderung wirtschaftliche Wendepunkte zu erkennen, kann sie die potenzielle Analyse des Konjunkturzyklus verbessern.12 Dies macht sich insbesondere bei der Vermögensallokation bemerkbar, denn je nach Phase des Konjunkturzyklus entwickeln sich die verschiedenen Anlageklassen unterschiedlich.13
Dazu leitet die Wave eine Präferenzmatrix ab, die die verschiedenen Phasen des Konjunkturzyklus berücksichtigt. Sie dient als Input für den Portfolio-Optimierer14 der Wave, der die optimale Vermögensallokation ermittelt. Der Konjunkturzyklus sowie Schätzungen aus historischen Daten für Rendite, Volatilität und Kovarianz werden im Tool als Kompass für die optimale Gewichtung verwendet. Darüber hinaus werden die Restriktionen und die Risikoaversion des Kunden berücksichtigt, um den Nutzen des Kunden zu maximieren.
Mensch und Maschine: Teamwork im Investmentprozess
Um falsche Schlussfolgerungen zu vermeiden, müssen die von der Maschine generierten Ergebnisse der Präferenzmatrix hinterfragt und geprüft werden. Hier kommt der Mensch ins Spiel, der die einzigartige Fähigkeit besitzt, mittels logischen Denkens Schlussfolgerungen zu ziehen. Er ist dadurch in der Lage, kritisch zu reflektieren und unklare Signale zu entschlüsseln – etwas, das die Maschine häufig nicht kann. Darüber hinaus kann der Mensch verschiedene Einflussfaktoren auf die Konjunktur sowie externe (wirtschaftliche) Schocks identifizieren, die nur selten auftreten und darum in den makroökonomischen Daten unterrepräsentiert sind, wie beispielsweise die Corona-Pandemie.
Die Präferenzmatrix der Maschine ist eine taktische Orientierungshilfe und dient dem Menschen als wertvolle Entscheidungshilfe im Investmentprozess. Unter Zuhilfenahme seines breiten Erfahrungsschatzes und seiner fachlichen Kompetenz analysiert er die Trends und Entwicklungsmuster, welche die Wave ermittelt hat. Diejenigen Bereiche, für die keine zeitnahen bzw. geeignete Indikatoren vorliegen, ergänzt er mit seinem detaillierten Wissen. Zudem berücksichtigt er unbekannte Parameter und verschiedene mögliche Ergebnisse, so dass viele Szenarien auf einmal bewertet werden können.
Dadurch wird ein umfassendes Bild gezeichnet, mit dessen Hilfe der Mensch dort, wo es nötig ist, die Gewichtungen der Anlageklassen anpasst. Auf diese Weise wird innerhalb des Investmentprozesses eine Vermögensallokation geschaffen, die das Beste aus zwei Welten vereint.
Fazit
Big Data sind in einem Vakuum wertlos. Ihr potenzieller Wert wird nur dann ausgeschöpft, wenn die enorme Informationsmengen zu verwertbaren Erkenntnissen verdichtet wird. Gelingt es dem Anwender, die Informationsflut vorteilhaft zu neuem Wissen zu verarbeiten, kann dies neue Möglichkeiten der Entscheidungsfindung eröffnen. Der Grundgedanke dahinter ist die Kombination komplementärer Fähigkeiten, um ein System zu schaffen, das die Limitationen von Big Data überwindet.
Unsere Big Data-Technologie Wave ist in erster Linie dazu da, den Menschen zu befähigen, sorgfältig abgewogene und fundierte Entscheidungen zu treffen. Durch diese Kombination entsteht eine Symbiose, welche die Maschine zu einem gleichwertigen Teammitglied macht. Das Konzept dieses hybriden Ansatzes im Investmentprozesses zielt darauf ab, die komplementären Stärken von menschlicher Intelligenz und Big Data bestmöglich zu kombinieren, sodass sie gemeinsam eine bessere Leistung erbringen können als jede für sich allein.
Wir glauben, dass die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine nicht nur der Schlüssel zum Erfolg, sondern auch eine Chance ist, die es zu nutzen gilt. Dies wird auch durch wissenschaftliche Studien gestützt, die nachweisen, dass Organisationen die grössten Leistungsverbesserungen erzielen können, wenn Mensch und Maschinen zusammenarbeiten.15
1. Diese Definition ist von dem allgemeinen Buzzword «Big Data» abzugrenzen, das in den Medien für eine Vielzahl anderer Bedeutungen verwendet wird.
2. Chen, H., Chiang, R. H. L. & Storey, V. C. (2012). Business intelligence and analytics: From big data to big impact. MIS Quarterly, 36(4), 1165–1188.
3. Derzeit gibt es keine universellen Benchmarks für Volumen, Vielfalt und Geschwindigkeit, die Big Data ausmachen. In jüngster Zeit wurde zusätzlich noch die Dimension Wahrheitsgehalt (Veracity) in den Fokus gerückt. Die Frage, wie viele V's von Big Data berücksichtigt werden sollten, ist umstritten. Je nach Konzept erscheint es allerdings sinnvoll, weitere Dimensionen zur Charakterisierung heranzuziehen.
4. Saggi, M. K. & Jain, S. (2018). A survey towards an integration of big data analytics to big insights for value-creation. Info Proc Man, 54(5), 758–790.
5. Elgendy, N. & Elragal, A. (2014). Big data analytics: A literature review paper. In P. Perner (Ed.), Advances in data mining. Applications and theoretical aspects (214–227). ICDM 2014. Lecture Notes in Computer Science, 8557. Springer: Cham.
https://doi.org/10.1007/978-3-319-08976-8_16
6. Unter dem Informationsbedarf wird die Menge, Art und Qualität der Informationen, die zur Erfüllung der Aufgabenstellungen in einer bestimmten Zeit benötigt werden, verstanden.
7. Sammut, G. & Sartawi, M. (2012). Perspective-taking and the attribution of ignorance. Journal for the Theory of Social Behaviour, 42(2), 181–200.
8. Dorschel, J. (2015). Einführung und Überblick. Praxishandbuch Big Data. Springer, Wiesbaden, 5–14.
9.
https://am.vontobel.com/insights/the-business-cycle-as-the-key-to-successful-investment-decisions
10. Stock, J.H. & Watson, M.W. (2002a). Forecasting Using Principal Components from a large number of predictors. Journal of the American Statistical Association, 97, 1167-1179; Stock, J.H. & Watson, M.W. (2006). Forecasting with Many Predictors. In G. Elliott, C. Granger & A. Timmermann (ed.), Handbook of Economic Forecasting (515-554), 1, Amsterdam: Elsevier; Giannone, D., Reichlin, L. & Small, D. (2008). Nowcasting: The Real-Time Informational Content of Macroeconomic Data. Journal of Monetary Economics, 55(4), 665-676.
11.
https://am.vontobel.com/insights/the-vescore-wave-a-superior-business-cycle-model
12. Viele andere Konjunkturmodelle verwenden lediglich einige wenige Schlüsselfaktoren, um den künftigen Verlauf der Wirtschaft zu bestimmen. In der langfristigen Vergangenheit zeigte sich, dass die Wave beim Prognostizieren der Konjunkturphasen aber auch bei der Antizipation von Wendepunkten des Konjunkturzyklus im Durchschnitt bessere Ergebnisse erzielte als die gängigen Frühindikatoren, denen sie um rund einen Monat vorausläuft.
13.
https://am.vontobel.com/insights/the-business-cycle-as-the-key-to-successful-investment-decisions
14. Das Portfolio-Optimierungstool dient dazu, die Anteile der verschiedenen Vermögenswerte in einem Portfolio auszuwählen. Ziel ist es, die risikobereinigte Rendite zu maximieren, indem ein umfassendes Set von Portfolio-Optimierungs- und Analysewerkzeugen eingesetzt wird, um die Kapitalallokation, die Vermögensverteilung und die Risikobewertung durchzuführen. Darüber hinaus bietet der Optimierer ein Backtesting-Framework zur Überprüfung von Portfolio-Allokationsstrategien und eine umfangreiche Performance-Analyse-Suite.
15. Wilson, H. & Daugherty, P. R. (2018). Collaborative intelligence: humans and AI are joining forces. Harvard Business Review, 96, 114-123.