Das China-Paradoxon: Unterrepräsentiert oder zu dominant bei den Schwellenländeraktien?

Conviction Equities Boutique
Artikel 7 Minuten

Seit China 1978 mit der Öffnung und Reform seiner Wirtschaft begonnen hat, ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im Durchschnitt um mehr als neun Prozent pro Jahr gewachsen, und mehr als 800 Millionen Menschen haben sich aus der Armut befreit1. Im Jahr 2022 machte China etwas mehr als 18,6 Prozent der Weltwirtschaft aus und war damit gemessen am nominalen BIP das zweitgrösste Land nach den Vereinigten Staaten2. Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass in diesem Jahr etwas mehr als ein Drittel des weltweiten Wirtschaftswachstums aus China kommen wird. Während in den letzten zehn Jahren das «chinesische Paradoxon» zu beobachten war, dass der chinesische Aktienmarkt (mit einer annualisierten Rendite von +4,3 Prozent für den Zeitraum 31.12.2011 – 31.12.2023) nicht mit dem BIP-Wachstum (+6,6 Prozent auf Jahresbasis im gleichen Zeitraum3) Schritt halten konnte, haben die Börsen von Shanghai und Shenzhen in Bezug auf Kapitalisierung und Bedeutung stark zugelegt. Mit einer gemeinsamen Marktkapitalisierung von 11,6 Billionen USD sind die Börsen von Shanghai und Shenzhen nun die zweitgrössten der Welt, hinter den US-Börsen NYSE und NASDAQ und deren kombinierter Marktkapitalisierung von 44,4 Billionen USD4.

Die Gewichtung chinesischer Aktien im MSCI Emerging Market Index hat sich seit 2011 mehr als verdoppelt und ist von 15,3 Prozent auf 30,8 Prozent gestiegen5. Da Chinas Kapitalmärkte für internationale Anleger jedoch noch nicht uneingeschränkt zugänglich sind, wird die Marktkapitalisierung der in Schanghai und Shenzhen notierten Aktien nur mit einem Allokationsfaktor von 20 Prozent gewichtet. Würde dieser Faktor auf 100 Prozent erhöht, würde Chinas Gewicht im MSCI EM Index auf 44 Prozent ansteigen und somit fast die Hälfte des Index ausmachen. Dies verdeutlicht ein zweites Paradoxon des chinesischen Aktienmarktes: Er ist dominant, aber gleichzeitig auch unterrepräsentiert.

In den letzten drei Jahren haben sich jedoch die chinesische Politik und Wirtschaft verändert. Der chinesische Staatschef Xi Jinping scheint derzeit vor allem bestrebt zu sein, eine nachhaltige Grundlage für eine Ausweitung des globalen Einflusses Chinas zu schaffen. Ziel dabei ist es, die «Falle des mittleren Einkommens» durch eine Wirtschaft zu überwinden, die einen höheren Mehrwert für die Bevölkerung generiert und für einen besseren Lebensstandard sorgt («gemeinsamer Wohlstand»). In den letzten Jahren ging die Regierung hart gegen grosse Technologieunternehmen wie Alibaba vor, was darauf hindeutet, dass Wohlstandsgefälle und dominante Marktpositionen privater Unternehmen missbilligt werden. Zugleich scheint das Interesse an einer sozialistischen Planwirtschaft zu wachsen. Dies äussert sich in einer Umstrukturierung des BIP weg von Infrastruktur- und Immobilieninvestitionen hin zu ausgewählten strategischen Industriesektoren und dem steigenden Konsum der einheimischen Mittelschicht. Diese Umstrukturierung, die wahrscheinlich zu einer niedrigeren künftigen Wachstumsrate führen wird, löst verständlicherweise bei vielen westlichen Investoren Unsicherheit und Ungewissheit aus.

Fünf Muster der Anlegerreaktion

Auf der Grundlage dieser gegensätzlichen Entwicklungen und deren Interpretation suchen die Anleger zunehmend nach unterschiedlichen Möglichkeiten, China in ihr Portfolio zu integrieren. Der einfache Ansatz, ein globales Schwellenländer-Aktienportfolio aufzubauen, in dem China seinen Platz hat, wird allmählich in Frage gestellt. Aus unseren Gesprächen mit Anlegern weltweit haben sich fünf Ansätze herauskristallisiert:

1.    Vollständige Kontrolle übernehmen: Viele Anleger wollen die volle Kontrolle über ihr Engagement in chinesischen Aktien und legen daher ein Ziel innerhalb ihrer gesamten strategischen Asset Allocation (SAA) fest. So können sie die Höhe ihres Engagements nach eigenem Ermessen ändern, je nachdem, ob chinesische Aktien steigen oder fallen. Dazu muss China aus dem gesamten globalen Schwellenländerportfolio herausgelöst werden, ähnlich wie bei einer separaten Allokation von US-Aktien neben einem Global-ex-US-Aktienportfolio. Obwohl dies intuitiv sinnvoll erscheint, war die Umsetzung eines solchen Ansatzes in einem aktiven Portfolio in den letzten Jahren nicht einfach, da die Produktverfügbarkeit begrenzt war.

2.    Das Engagement begrenzen: Eine vorsichtigere Einschätzung oder eine geringere Risikobereitschaft kann dazu führen, dass der Anleger die Gewichtung auf das derzeitige Niveau begrenzt. Ähnlich wie bei der ersten Option kann der Anleger bei diesem Ansatz die Kontrolle übernehmen, indem er für das Engagement in chinesische Aktien in seinem Gesamtportfolio eine effektive Obergrenze festlegt. Die Kontrolle des Engagements in chinesische Aktien lässt sich am besten durch die Trennung von chinesischen und globalen EM-Aktien erreichen.

3.    Das Engagement reduzieren: Von einigen sehr langfristig orientierten Anlegern wissen wir, dass sie aufgrund der sich verschlechternden demografischen Entwicklung und vergleichsweise besserer struktureller Wachstumschancen in anderen Schwellenländern wie Indien und Indonesien ein geringeres chinesisches Wirtschaftswachstum erwarten. Sie entscheiden sich daher bewusst dafür, ihr Engagement in China zu reduzieren. Auch hier gilt, dass die Trennung von China und globalen Schwellenländeraktien diese Option leichter umsetzbar macht.

4.    Beibehaltung des Status quo: In diesem Szenario hat der Anleger die Probleme geprüft und beschlossen, weiterhin in ein globales Schwellenländer-Portfolio zu investieren, das China einschliesst. Dies bedeutet, dass er sich mit den folgenden Szenarien abfinden kann: einem Einschlussfaktor für chinesische Aktien von nahezu 100 Prozent und einem chinesischen Aktienmarkt, der sowohl in der Benchmark als auch im eigenen Portfolio des Anlegers noch dominanter ist.

5.    Null-Engagement:Die fünfte und extremste Option ist der komplette Ausschluss chinesischer Aktien aus dem Portfolio eines Kunden. Unserer Erfahrung nach ist diese Art von Ansatz selten und wird, wenn überhaupt, eher von ethischen Fragen wie Autokratie, Menschenrechtsverletzungen, Meinungsfreiheit und sozialer Überwachung der Bürger bestimmt. Bei diesem Ansatz stehen Renditeerwägungen für den Anleger eindeutig im Hintergrund - das heisst, der mögliche Renditeverlust wird bewusst in Kauf genommen.

Kann die frühere Performance der Schwellenländer ohne China den Anlegern als Orientierung dienen?

Die Änderung der Struktur Ihres EM-Aktienportfolios ist eine wichtige Entscheidung, und es ist hilfreich, sich zunächst anzusehen, wie der EM ex-China-Ansatz in der Vergangenheit abgeschnitten hat.

Betrachten wir einmal die annualisierte Rendite für den Zeitraum 2002-2022 (in USD): Der MSCI EM Index erzielte eine Rendite von 8,9 Prozent gegenüber 7,2 Prozent für den MSCI EM ex-China Index6, was angesichts des starken Wachstums der chinesischen Wirtschaft sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen in diesem Zeitraum logisch erscheint. Eine Aufschlüsselung der Rendite – in die Komponenten Gewinn je Aktie, Gewinnwachstum, Bewertungsänderung (KGV) und Dividendenrendite – zeigt, dass die Bewertungen sowohl mit als auch ohne China jährlich um gut zwei Prozent gesunken sind. Da ein geringeres Wachstum eine niedrigere Bewertung rechtfertigt, lässt sich dies durch die rückläufige (oder sogar negative) Wachstumsprämie aller Schwellenländer im Vergleich zu den Industrieländern in diesem Zeitraum erklären. Darüber hinaus wies der MSCI EM ex-China Index in den letzten fünf Jahren eine etwas höhere Volatilität auf.

Man kann also argumentieren, dass sich eine Umstellung auf «ex-China» in der Vergangenheit nicht ausgezahlt hat. Abgesehen davon ist es unmöglich, die künftige Entwicklung des Risiko-/Ertragsprofils für EM ex-China vorherzusagen.

Historische Renditezerlegung und Volatilität

2023-09-18_the-china-paradox-underrepresented_chart1_de

 

2023-09-18_the-china-paradox-underrepresented_chart1_1_de


Der Ausschluss Chinas beseitigt nicht unbedingt seinen Einfluss

Einen Hinweis auf die langfristige Entwicklung eines Schwellenländeransatzes ohne China könnte ein Blick auf den Zusammenhang zwischen dem erwarteten Bevölkerungswachstum, dem Wirtschaftswachstum und der Börsenkapitalisierung liefern. Während Chinas Bevölkerung schrumpft, wird für Länder wie Indien, Pakistan, Nigeria und Indonesien weiterhin ein jahrzehntelanges starkes Bevölkerungswachstum prognostiziert. Es wird erwartet, dass Volkswirtschaften mit wachsender Bevölkerung ein stärkeres Wirtschaftswachstum aufweisen und – da das Pro-Kopf-BIP einen Anstieg des Einkommens und des Vermögens bedeutet, das wiederum über Pensionsvermögen in Aktien investiert wird – könnte die Marktkapitalisierung der Börsen sogar überproportional zum Bevölkerungswachstum steigen. In einem solchen Szenario würde Indien ab etwa 2050 China in Bezug auf die Marktkapitalisierung überholen, und die oben genannten Länder würden im MSCI EM-Index stärker gewichtet werden7. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass Schwellenländer wie Nigeria und Pakistan entweder für viele professionelle Anleger nicht zugänglich sind oder noch keinen institutionellen Standards entsprechenden Aktienmarkt haben.

Anteil an der globalen Marktkapitalisierung nach Region/Land

2023-09-18_the-china-paradox-underrepresented_chart2_de


Die Importe und Exporte in den und aus dem Westen insgesamt sind für die meisten Schwellenländer sogar noch wichtiger als die Importe und Exporte in und aus China. Ausserdem hat sich Chinas Wirtschaftszyklus seit der Covid-Pandemie von dem anderer Länder abgekoppelt, was wiederum die Empfindlichkeit der Unternehmensgewinne gegenüber Veränderungen der Gewinne und der Wirtschaftstätigkeit in China verringert hat. Wenn die Anleger jedoch beschliessen, China in ihrem Schwellenländeransatz ganz oder teilweise zu ignorieren, sollten sie nicht vergessen, wie eng die chinesische Wirtschaft mit der globalen Wirtschaft und der Wirtschaft anderer Schwellenländer verflochten ist. Man bedenke, dass China heute der grösste einzelne Handelspartner für fast alle Länder Asiens, Südamerikas und Afrikas ist. In Chile zum Beispiel machen die Kupferexporte 15 Prozent des BIP aus und zwei Drittel davon gehen nach China8.

Welcher Ansatz ist der beste?

Auf diese Frage gibt es keine richtige oder falsche Antwort. Wie bei jeder Anlageentscheidung muss auch bei der Frage, wie China in ein EM-Portfolio aufgenommen wird, die Entscheidung für den Anleger sinnvoll sein und den individuellen Verhältnissen und Überzeugungen entsprechen.

Unser Ansatz bei mtx besteht darin, den Kunden Instrumente an die Hand zu geben, mit denen sie ihr individuelles EM-Aktienportfolio aufbauen können. Dazu bieten wir mehrere Strategien an, die auf einer einheitlichen Anlagephilosophie und unserem Vier-Säulen-Anlageprozess beruhen. Hierzu gehört seit Ende 2021 eine mtx EM ex-China-Strategie für Anleger, die China vom Rest ihrer EM-Aktienallokation trennen möchten. Dieses Portfolio weist die Stileigenschaften auf, die Sie von jeder mtx-Strategie erwarten, nämlich höhere Qualität bei angemessenen Bewertungen. Und selbstverständlich lässt es sich neben einem gesonderten Chinaaktienengagement bestens umsetzen.

Grundsätzlich wären wir vorsichtig mit dem Rat, angesichts der Bedeutung Chinas für die Weltwirtschaft, chinesische Aktien vollständig aus den EM-Portfolios zu streichen. Auch wenn die letzten Jahre für den chinesischen Aktienmarkt schwierig waren, ist es unserer Meinung nach ein extremer Schritt, den zweitgrössten Markt der Welt komplett auszuschliessen. Das Angebot von Ex-China-Lösungen ermöglicht es den Kunden jedoch, die Kontrolle zu übernehmen und auf ihre individuellen Umstände zugeschnittene Allokationsentscheidungen zu treffen. Unserer Ansicht nach ist die zunehmende Individualisierung von Anlageansätzen eine sehr positive Entwicklung für Anleger.

 

 

 

 

 

1 Gemessen anhand des CSI 300 Index. Quelle: Weltbank, 20. April 2023, https://www.worldbank.org/en/country/china/overview
2 Quelle: IWF, 1. Mai 2023, https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2023/05/01/asia-poised-to-drive-global-economic-growth-boosted-by-chinas-reopening
3 Quelle: Vontobel Asset Management, Bloomberg, Daten vom 31.07.2023
4 Quelle: Statista, Daten vom 30.04.2023, https://www.statista.com/statistics/270126/largest-stock-exchange-operators-by-market-capitalization-of-listed-companies/
5 Quelle: MSCI, Bloomberg; Daten vom 31.07.2023
6 Quelle: Vontobel Asset Management, Factset; Daten vom 31.05.2023
7 Quelle: Goldman Sachs Investment Research, The Path to 2075 — Capital Market Size and Opportunity, 08.06.2023
8 Quelle: S&P Global Ratings, https://www.spglobal.com/ratings/en/research/articles/230201-which-emerging-markets-benefit-the-most-from-a-reopening-in-china-12623592#:~:text=The%20emerging%20markets%20(EMs)%20that,and%20include%20Thailand%20and%20Vietnam.

 

Wichtige Informationen

Die frühere Wertentwicklung ist kein verlässlicher Indikator für zukünftige Ergebnisse. Asset Allocation und Diversifizierung sind keine Garantie für einen Gewinn und schützen nicht vor einem Verlust. Indizes werden nicht verwaltet, es werden keine Gebühren oder Kosten berücksichtigt, und direkte Investitionen in einen Index sind nicht möglich.

Zukunftsgerichtete Aussagen über zukünftige Ereignisse oder die finanzielle Entwicklung von Ländern, Märkten und/oder Anlagen beruhen auf einer Vielzahl von Schätzungen und Annahmen. Es kann nicht garantiert werden, dass sich solche Annahmen als richtig erweisen, und die tatsächlichen Ergebnisse können erheblich von diesen Annahmen abweichen. Die Angabe von Prognosen ist nicht als Hinweis darauf zu verstehen, dass Vontobel diese als zuverlässige Vorhersage zukünftiger Ereignisse erachtet, und Anleger sollten sich nicht auf Prognosen stützen.

Über den Autor

Zugehörige Insights